Von wegen „Dummys“: Es ist eine Familie von intelligenten Spezialisten, die Enormes für den Insassenschutz leistet. Zeit also, sie näher kennenzulernen.
Täglich fallen sie aus hohem Tempo in Gurte, prallen gegen Airbags, Gegenstände oder Mitfahrer, verrenken und verletzen sich. Sie sind darauf ausgelegt, schlimme Autounfälle wegzustecken, halten für unsere Sicherheit die Köpfe hin. Doch warum und wie genau tun sie das?
Als leistungsfähiges, dem menschlichen Körper nachempfundenes Messinstrument besitzt ein moderner Dummy viel Gefühl: Mit bis zu 200 Sensoren spürt und kommuniziert er elektronisch, was bei einem Crash mit ihm passiert. Diese Messpunkte verteilen sich über den gesamten Körper. Im Kopf kann sogar ein sogenanntes „Sensor-Sixpack“ sitzen.
Drei Viertel der heutigen Crashtest-Dummys haben gemeinsame familiäre Wurzeln in den USA, stammen vom Weltmarktführer Humanetics mit Hauptsitz in Farmington Hills, Michigan. Offiziell heißen die Dummys übrigens Anthropomorphic Test Devices (ATD).
Kunden von Humanetics sind nahezu alle Automobilhersteller und großen Zulieferer (Tier 1). Von dort beziehungsweise dem Vorgängerunternehmen kommen größtenteils alle ATDs, die ZF nutzt. Der allererste Dummy war jedoch gar nicht für Pkw-Einsätze bestimmt. Vielmehr musste „Sierra Sam”, so sein Name, Flugzeug-Schleudersitze, Gurtsysteme und Schwimmwesten beim US-Militär testen.
Vor den ersten ATDs absolvierten oft Leichen und Tierkadaver – speziell Affen und Schweine – die Crashtests. Die Ingenieure hatten dadurch die biomechanischen Grenzwerte parat, die sie für möglichst „humanoide“ Puppenkonstruktionen benötigten.
In den 1970ern stiegen sogar Manager höchstpersönlich in die Fahrzeuge. Ihre Mission lautete allerdings nicht, menschliche „Versuchskaninchen“ zu spielen. Bei Kundenpräsentationen wollten sie damit vielmehr (in „ungefährlichen“ Crashs) beweisen, wie überzeugt sie von den eigenen Insassenschutzsystemen sind (siehe Bilderstrecke).
Das Grundskelett eines Dummys besteht aus Stahl und Aluminium, der Schädel aus Aluguss. Die Wirbelsäule machen Gummischeiben zwischen den „Knochenelementen“ flexibel. Rippen aus Stahl und Polymerwerkstoffen formen den Brustkorb. Elastische Vinylhaut umspannt den gesamten Körper, das Gewebe darunter besteht aus Schaumstoff. Schrauben halten die Gelenke zusammen. Dummys sind dem Menschen also mit völlig anderen Materialien nachgebaut. Dennoch ähneln sie ihm anatomisch stark.
Seit 1976 ist der „Hybrid III 50th Percentile Male“ (HIII-50M) bei Dummys das Maß der Dinge: Ursprünglich 1,75 Meter groß und 78,2 Kilo schwer, entsprach er damals dem (männlichen) Durchschnittsmenschen. Doch Letzterer wuchs über die Jahrzehnte, wurde vor allem schwerer und älter. Zugleich stiegen die Testanforderungen. Also folgten mehr und neuere Varianten des Hybrid III, dem Rekordteilnehmer bei Auto-Crashtests. Nur die ganz Alten haben sich inzwischen zur Ruhe gesetzt, einer von ihnen direkt im Deutschen Museum.
Jetzt will THOR anstelle der „Hybrid III“ übernehmen, bei ZF tritt er bereits in dreifacher Mannstärke an. Er ähnelt dem Menschen noch stärker, bewegt sich authentischer und misst präziser. Und er liefert 3D-Informationen von jedem Crash, die auch für virtuelle Dummys perfekt sind.
Wenn Sie sich also das nächste Mal für eine Fahrt anschnallen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit und denken Sie daran, dass der "Crash-Clan" die Sicherheit ihres Fahrzeugs erhöht!
Ein einzelner Dummy, der den Bewegungsapparat von erwachsenen Menschen in jeder Richtung präzise imitiert, existiert (noch) nicht. Aber es gibt Spezialisten für alle Fälle.
Hybrid: Der Name entstand Ende der 1960er-Jahre. General Motors entwickelte aus zwei verfügbaren Dummy-Typen („VIP-50“ und „Sierra Sam“) einen neuen, der die unternehmenseigenen Ansprüche erfüllte. Hybrid-Dummys sind vor allem für den Frontalaufprall konzipiert.
SID: Die Abkürzung steht für Side Impact Dummy, was auch seinen bevorzugten Einsatzbereich beschreibt. Er ahmt mit seinem mechanischen Aufbau möglichst exakt die menschlichen Bewegungen bei seitlichen Kollisionen (Lastfällen) nach. Unverwechselbar machen diesen ab circa 1980 entwickelte Dummy die fehlenden Unterarme.
BioRID: Der so genannte Biofidelic Rear Impact Dummy entstand in den 1990ern. Er beruht auf Forschungen der schwedischen Chalmers-Universität zusammen mit den Autobauern Saab und Volvo. Bei Crashs verhält er sich menschenähnlicher als der Hybrid III, ist also „biofidel“. Das liegt allen voran an der gelenkigeren, „authentischeren“ Wirbelsäule. So empfiehlt sich der BioRID bis heute speziell für Heckaufpralltests.
CRABI: Die Bezeichnung leitet sich ab aus Child Restraint/Air Bag Interaction. Sie beschreibt eine Gruppe von drei Kleinkind-Dummys. Diese imitieren Menschen im Alter von 6, 12 und 18 Monaten in puncto Größe, Gewicht (jeweils 50-Perzentil) und Beweglichkeit. Getestet werden damit Kinder-Rückhaltesysteme in allen Aufprallrichtungen sowie mit und ohne Airbagauslösung.
THOR: Beim Test Device for Human Occupant Restraint handelt es sich um den neuesten, menschenähnlichsten Dummy. Er folgt auf den „Hybrid III 50-Perzentil-Mann “. Diesen übertrifft er deutlich in Sachen Wirbelsäulen- und Beckenkinematik sowie Gesichtssensorik. Die Messausstattung ist nicht nur umfangreicher, sondern erfasst auch viel genauer. Im Euro NCAP kommt THOR ab 2020 für einen neuen Frontalcrash, den MPDB-Test (Mobile Progressive Deformable Barrier), zum Einsatz: Dieser bewertet zusätzlich, wie rücksichtsvoll ein Fahrzeug mit seinem Unfallgegner umgeht.
Achim Neuwirth ist seit 2011 als Autor für ZF tätig. Der Publizistiker schreibt bereits seit rund 20 Jahren über Mobilitätsthemen in allen Facetten.
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